Bericht vom Straubinger Tagblatt vom 8. April 2022
Autor: Monika Schneider-Stranninger
Am Freitagabend ist für Elisabeth Margraf Erntezeit. Im Theater am Hagen in Straubing. Dort geht zum ersten Mal der Vorhang auf für „Anatevka“, das die Crazy Musical Company nach monatelanger Probenarbeit mit einem großen Ensemble in schwieriger Zeit realisiert hat. Elisabeth Margraf ist die Choreographin. Wir sprachen mit der 34-jährigen gebürtigen Südtirolerin, die nach Paris und New York jetzt in München lebt – „zweite Heimat Deutsche Bahn“ – und nach einem Musik-Studium an der Pariser Sorbonne und Musicalausbildung in New York hauptberuflich Choreographin, Sängerin, Tänzerin und Schauspielerin ist.
„Anatevka“ ist ihr drittes Engagement bei der Crazy Musical Company. Es sind drei ganz unterschiedliche Produktionen, „Jekyll and Hyde“, „Doktor Schiwago“ und jetzt „Anatevka“. Was verbinden Sie mit den drei Produktionen?
Elisabeth Margraf: Begeisterung! Auf erstem Blick könnten diese Stücke kaum unterschiedlicher sein, aber alle drei sind Werke mit Inhalt, starker Aussagekraft und Dramatik und gehen weit über Musicals hinaus, die nur aus Visual Effects bestehen. „Anatevka“ wurde in den 1960er Jahren als Experiment geschrieben, den stereotypen Shows etwas Neues entgegenzusetzen, und gehört bis heute zu den meistgespielten Musicals. Als Wahlmünchnerin verbinde ich natürlich mit jeder Produktion der Crazy Musical Company ein Heimkommen zu einer stets wachsenden musikalischen Familie und wunderschöne Straubinger Erlebnisse.
Was ist Ihnen als Erstes in den Sinn gekommen, als Sie vom diesmaligen Musical-Titel erfahren haben?
Margraf: Mehrere Gedanken zeitgleich! Meinen ersten Kontakt zum Sujet hatte ich bereits als Schulkind, als wir im Musikunterricht Norman Jewisons Verfilmung von „Anatevka“ gesehen haben. Im ersten Semester meiner Musicalausbildung in New York wurde ich dann dank meines damals noch sehr stark ausgeprägten europäischen Akzents häufig mit jüdischen Immigrantenrollen besetzt. „Anatevka“ war auch eines der ersten Stücke, für das ich eine Einladung zum Vorsingen am Broadway erhielt. Des Weiteren durfte ich während meiner Studienzeit die Wochenenden bei einer der reichsten jüdischen New Yorker Familien als Nanny verbringen; die Kinder gingen zur Hebrew School und dadurch hab ich sehr viel über diese Kultur gelernt. Für mich schließt sich also hier ein Kreis; vielleicht ist mir auch deshalb diese Produktion so eine Herzensangelegenheit.
Was ist ihre größte Herausforderung bei der aktuellen Produktion beziehungsweise vielmehr choreographisch für das Ensemble?
Margraf: „Anatevka“ ist als eines der wenigen Musicals bekannt, bei dem die legendäre Original-Choreographie von Jerome Robbins, für die er damals sogar einen Tony Award erhalten hat, mit der Show reist. So große Fußstapfen zu füllen, ist kaum möglich. Daher war die größte Herausforderung für mich als Choreographin, etwas so Bekanntes zu nehmen und es für das Ensemble der Crazy Musical Company und für das 21. Jahrhundert zu bearbeiten, ohne sich zu weit von dem zu entfernen, was das Publikum kennt und liebt. Der wohl berühmteste Tanzmoment der Show, der Flaschentanz in der Hochzeitsszene, war infolgedessen auch für das Ensemble herausfordernd, da es so viele kleine Details gibt, auf die man bei der Ausführung zu achten hat. Außerdem dürfen in „Anatevka“ Frauen und Männer nur nach Geschlecht getrennt tanzen; im Laufe des Stückes erleben wir den Bruch dieser Tradition und dessen Konsequenzen. Somit galt es, auch diese Choreographien so zu gestalten, dass sie den Darstellern zwar ein Gerüst liefern, dabei aber den improvisierten Charakter eines „ersten“ gemeinsamen Tanzes (Frau/Mann) nicht verlieren.
Die Corona-Pandemie hat diese Produktion sehr erschwert. Wie haben Sie das erlebt? Wie haben Sie geprobt?
Margraf: Es gab kaum Proben, an denen alle Beteiligten anwesend waren, da es immer wieder Quarantänefälle gab. Das war natürlich eine Herausforderung; allerdings wurde jede Probeneinheit gefilmt. Ich bin immer wieder aufs Neue vom unermüdlichen Engagement und der Disziplin dieses Ensembles beeindruckt; anhand der Aufnahmen haben sie eigenständig zu Hause geübt und konnten dadurch bei der nächsten Probe die Änderungen schnell umsetzen. Äußerst dankbar bin ich auch für das Durchhaltevermögen der Tänzer, vor allem bei Cardio-lastigen Nummern wie „L’chaim“, die wir ja mit FFP2-Masken proben mussten.
Was hat sie bei dieser Produktion besonders inspiriert und geleitet? Welche Philosophie, welche Gedankenwelt?
Margraf: „Anatevka“ ist eine zeitlose Geschichte, die herzzerreißende Freude, widerhallenden Schmerz und grenzenlose Liebe aufzeigt. Es geht darin um Veränderung: Jeder wird in einer kulturellen, religiösen oder familiären Tradition erzogen. Wenn wir älter werden und sich die Umstände ändern, müssen wir diese Traditionen neu verhandeln. Leider hat das Stück in den vergangenen Wochen durch den Krieg erschreckende Aktualität bekommen. Trotz der Tatsache, dass Anatevka – anders als andere Broadway Musicals – nicht mit einem Happy End, sondern mit dem unfreiwilligen Verlassen der Heimat endet, ist es ein Stück der Hoffnung. Es gibt Hoffnung, dass diese Menschen überleben und woanders eine Zukunft finden. Ich persönlich hoffe wirklich, dass das Publikum mit offenen Armen und einem erweichten Herzen die Vorstellung verlässt. Und natürlich auch, dass alle tanzen und feiern wollen, was das Leben zu bieten hat!
Am Freitag ist Premiere. Wie erleben Sie diese Aufführung? Wieder von ganz hinten im Zuschauerraum? Nervös wie das Ensemble oder anders?
Margraf: Voraussichtlich wieder von ganz hinten im Zuschauerraum, aber mit viel Enthusiasmus und Lampenfieber!
Sie sind freiberuflich tätig. Wie haben Sie die Pandemie-Zeit überstanden? Wie haben die vergangenen Monate beruflich für Sie ausgesehen?
Margraf: Wie für die meisten, die in dieser Branche tätig sind, waren die vergangenen Monate beruflich nicht leicht. Unsere Musical-Tournee wurde durch die Pandemie unterbrochen und so musste ich mich erstmal mit einem ungewohnten Alltag von festem Wohnort statt ständiger Tourbus-Reisen und Hotel-Aufenthalte zurechtfinden. Umso dankbarer war ich, einen Großteil dieser Zeit dann am Set für eine neue internationale Amazon Prime Serie verbringen zu dürfen, und jetzt diese Straubinger Produktion choreographisch zu begleiten.
Was steht als Nächstes für Sie an?
Margraf: Selbstverständlich freue ich mich schon sehr auf das nächste Projekt der Crazy Musical Company, „Sweeney Todd“, das 2020 coronabedingt verschoben werden musste. Nebst anstehender Konzerttätigkeit, geht es für mich aber zunächst zurück an das Mainfranken Theater Würzburg für die Wiederaufnahme der „Comedian Harmonists“ sowie für eine Neuproduktion des dortigen Schauspielensembles.